Anders als mit Platon oder Aristoteles kann man mit dem leibhaftigen Philosophen Christian Schüle (*1972) noch sehr kontrovers diskutieren, wofür er sich übrigens ausgesprochen dankbar zeigte. Schüle lebt in Hamburg, las aber schon zum zweiten Mal in Unterkrumbach, vor genau 10 Jahren aus der Deutschlandvermessung, letzte Woche aus seinem neuen Buch Heimat, das wir bereits hier besprochen haben.
Weil Michael Scholz, der Chefredakteur der Hersbrucker Zeitung , dankenenswerter Weise darüber ausführlich berichtete, was unten nachlesbar ist, bleibt uns nun noch der Dank an den weit angereisten Autor, unsere treuen Besucher, die sich auch von schwierigen Themen nicht abschrecken lassen, an Ute Plank für ihr 8 Meter Aquarell, das so wirkte, als wäre es just für diesen Abend geschaffen und an die Mitveranstalter Martin und Ulrike Lösch von der gleichnamigen Buchhandlung.
In der Begrüßung (im Video nachhörbar, oder unten nachlesbar) versuchten wir die vielen Parallelen zwischen dem beeindruckenden Buch, der Cittaslow Hersbruck (die darin sogar erwähnt wird) und der regionalen Entwicklung in der Hersbrucker Alb aufzuzeigen: vom heimischen Holz unserer Möbel bis zu Heimat aufm Teller und dem vielgelobten Buffet von Moritz Kellner vom „Imbissladen Mahlzeit“. Die Diskussion nach der Lesung beschäftige sich fast ausschließlich mit dem durchaus wichtigen Flüchtlingsthema, uns wäre der regionale Bezug mehr am Herzen gelegen, aber wir haben uns in der Vorbesprechung gegen eine Moderation und für einen offenen Verlauf im Sinne unserer Gäste entschieden.
Den vielen Gästen, die uns wegen Terminproblemen anriefen, oder mailten, haben wir eine Videoaufzeichnung versprochen, die Sie hier genießen können. Wir empfehlen zu der 1:20 langen Aufzeichnung stilecht den Wein von Manfred Rothe und die Sandwichs von „Mahlzeit“ und davor oder danach das Buch von Christian Schüle.
Das Aquarell von Ute Plank im Video
Wie immer gab es in unserer Ausstellung nach dem Signieren noch einen wunderbaren Ausklang, nach der Übernachtung im regionalen Musterhaus brachte Ute Danzer Christian Schüle zum Bahnhof und er versprach auch beim nächsten Buch wieder nach Unterkrumbach zu kommen.
Zeitungsartikel von Michael Scholz in der Hersbrucker Zeitung
UNTERKRUMBACH – Der Kopf ringt mit einem Gefühl. Auch so ließe sich das einst verpönte und aktuell sehr populäre Wort Heimat treffend beschreiben. Darum ging es bei der Lesung von Christian Schüle bei den „Möbelmachern“ in Unterkrumbach. Der Zeit- und Buch-Autor beleuchtete das Phänomen psychologisch, historisch und politisch.
In der Diskussion mit dem Publikum am Ende mündete sein philosophischer Diskurs aber wohl unweigerlich ins große Flüchtlingsthema. Gastgeber herwig Danzer gibt in seiner Begrüßung offen zu, dass er früher ein eher ablehnendes Verhältnis
zum aus der NS-Zeit belasteten Wort „Heimat“ hatte. Als es vor 16 Jahren um den Namen für die Regionalprodukte aus dem Nürnberger Land ging, habe er es nicht Heimat nennen wollen, was
da „auf‘m Teller“ landet.
Und jetzt ist es in aller Munde, und vor ihm sitzt ein von ihm geschätzter Autor und erklärt auf intellektuell faszinierende Weise,
wie das aktuelle Weltgeschehen mit dem Begriff zusammenhängt.
„Heimat – ein Phantomschmerz“ heißt das Buch, aus dem Schüle
zwei Stunden lang vor etwa 70 Zuhörern Passagen liest.
Weil er selbst nicht so recht verstand, was Heimat eigentlich genau
bedeutet, habe er sich auf diese Erkenntnisreise begeben, antwortet
der gebürtige Friedrichshafener auf eine Zuschauerfrage.
Zehn Jahre war es her, als er so wie jetzt zum ersten Mal vor dem
riesigen Bretterstapel in der Möbelmacher- Werkstatt am Lesepult
saß. Damals stellte er seinen Band „Deutschlandvermessung“
vor und brachte die Cittaslow Hersbruck ins viel beachtete Zeit-
Dossier.
Martin Lösch von der gleichnamigen Buchhandlung leitet als
zweiter Gastgeber den Abend ein. Ihm sei bei der Lektüre des Buches
erst bewusst geworden, wie viele derzeit bewegende Themen der
Begriff „Heimat“ zusammenführe. Ihm gefiel, wie sich Schüle darin
am Grundwert der Menschlichkeit entlangbewegt und wie er
das Flüchtlingsthema in einer Gegenüberstellung zu verdeutlichen
sucht: Der flüchtende Homo sacer, der nichts als seinen Körper
hat und ankommen will, trifft auf den berechnenden Homo faber,
der reflexartig sein Revier verteidigen will.
Schüle beginnt seine Lesung im Halbdunkel. Heimat ist hier ein Geborgenheitsraum, ein Kirchturmschlag, der etwas tief Vertrautes
in uns auslöst: ein quasi religiöses Gefühl. Im Buch und auch
bei der Lesung landet er ganz am Schluss wieder bei diesem Geborgenheitsgefühl. Dann aber, nach sehr klärenden 250 Seiten, bei vollem Bewusstsein und wesentlich sortierter.
Konstruierte Heimat
Auf dem Weg dahin beklagt er den grassierenden Verlust des
heimatlichen Kulturlandes durch die Gleichmacherei multinationaler Konzerne und definiert nationalistische
Abgrenzungen als unbegründeten Unsinn. Denn weder
ein Volk noch eine Sprache und erst recht keine Religion
stünden gottgegeben für nur eine Nation. Diese missdeutete Heimat
sei konstruiert und müsse Tag für Tag künstlich bestätigt werden.
Schüle appelliert an seine Zuhörer, es sich beim Thema
Rechtspopulismus aber nicht zu leicht zu machen. Die AfD habe
nicht nur Extremisten in ihren Reihen, sondern auch Menschen,
die glauben, zu kurz zu kommen oder angstgeplagt sind. Es gehe
um Gefühle, dagegen hülfen nur profunde Antworten und positive
Heimat-Begriffe. Er kommt an dem Abend mehrfach darauf: Jeder
sollte sich klar machen, dass in jeder Familie eine Vertriebenengeschichte stecke. Schüle argumentiert vielfältig für ein Jedermannsrecht auf Heimat. Seinen Zuhörern gibt er an der richtigen Stelle zu bedenken: „Wenn Menschen mit liberaler Haltung
keine Grenzen ziehen, dann tun es andere – wollen wir das?“
Dann betritt Schüle den Boden der Utopie, wenn er als Gegenrezept
zur bedingungslosen Globalisierung, die auch seiner Ansicht
nach zur enormen Flüchtlingsbewegung beiträgt, eine Welt
voller Kleinstregionen empfiehlt. Wirtschaft und Sozialleben würden staatenlos besser funktionieren – in kleinen Parzellen, die miteinander kooperieren. Alles mit Maß und Verstand, so dass dieses System wieder guten Gewissens an die Nachkommen weitergegeben werden kann. Auch als verbindendes
Heimatgefühl.
Rege Diskussion
Ein Grundprinzip darin sei die Teilhabe aller, die Heimat schaffe.
Flüchtlinge könnten klug eingebunden werden. Anstöße nennt
Schüle im Pausengespräch seine Ideen, mit denen in sogenannten
Commons vielerorts schon experimentiert werde. In der regen Schlussdiskussion steigen die Zuhörer ausschließlich
in das Thema Flucht und Asyl ein. Schüle sagt dabei unter anderem,
Kanzlerin Angela Merkel sollte inzwischen ruhig mal offiziell
loben, was alles geschafft wurde bei der Aufnahme von
Flüchtlingen – das meiste von einfachen Bürgern. Außerdem: Man
möge vom Heimatministerium halten, was man will, aber Bayern
habe dabei eine sehr gute Figur gemacht. Und: Die CSU-Forderung
nach einer „Obergrenze“ verstehe er nicht: „Geht es um subsidiären Schutz, um Asyl oder Einwanderer?“
Am Ende Beifall für ein Buch, das vielfach zur Meinungsbildung in
vielen aktuellen Fragen beiträgt.
MICHAEL SCHOLZ
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