von | Mai 19, 2007

Rote Stettiner – Eine Reportage über die slow city Hersbruck

Hutanger

von Nina SchoproniZeitzeichencover

Die Zeitschrift "zeitzeichen" Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, hat in ihrer Ausgabe
5/2007 eine gelungene Reportage über die slow city Hersbruck herausgebracht in der auch die Möbelmacher erwähnt werden.

Hier können Sie die Zeitzeichen als pdf lesen


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Rote Stettinger

Die fränkische Kleinstadt Hersbruck zeigt, wie Umweltpolitik und verträgliches Wirtschaften im Kleinen gelingen kann.Rund  um das fränkische Städtchen Hersbruck betreiben die Bauern wieder traditionelle Weidewirtschaft. Holz- wie Obstbauern erschließen sich in der Region einen Absatzmarkt. In den Gaststätten werden Gerichte serviert, die die Köche aus regionalen Lebensmitteln zubereitet haben. Für derartiges ökologisches und regionales Engagement bekam die Kleinstadt die Auszeichnung erste „Slow city Deutschlands".

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Zwischen Schrebergärten und Eisenbahnlinie faltet Fahrlehrer Ottmar Fischer den Pflanzplan auseinander. Prüfend wandert sein Blick die Böschung hinauf. Auf dem Papierbogen hat er Baum für Baum eingetragen – insgesamt 160, teils uralte Apfelsorten. Fischer, der Vorsitzender der örtlichen Streuobstinitiative ist, steht inmitten eines vor zwei Jahren gepflanzten Streuobstsortengartens.
Noch sind die Bäume klein. Mit der Hand zeigt er auf ein Apfelbäumchen: „Das ist der rote Stettiner, ein Mostapfelbaum, den bereits die Kreuzfahrer in die Gegend gebracht haben." Links daneben wächst der Borsdorfer, ein Winterapfel, von Zisterziensermönchen erstmals im 13. Jahrhundert nahe Jena gezüchtet. Granny Smith, Golden Delicious oder Braeburn sucht man dagegen vergeblich. Stattdessen treibt – jenseits aller EU-Normen – wieder ein kleiner Bruchteil der über 1000 Apfelsorten Blüten, die es noch Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland gab. Wir befinden uns vor den Toren Hersbrucks, 30 Kilometer östlich von Nürnberg. Die Stadt, an der alten Handelroute Nürnberg – Prag gelegen, hat 12 500 Einwohner. Typisch fränkischer Sandstein prägt das Stadtbild. Der Marktplatz ist umsäumt von teilsaniertem Fachwerk. Zweimal in der Woche findet hier Markt statt. Einige Fußminuten entfernt, befindet sich das einzige und erste Hirtenmuseum Deutschlands. Über 20 Prozent der Bevölkerung sind Rentner.

2001 hat das italienische Netzwerk „città slow" Hersbruck zur ersten „slow city", lebenswerten Stadt, Deutschlands ernannt. 1999 in Orvieto gegründet, zeichnet „città slow" europaweit Städte aus, die entgegen dem Trend der Globalisierung Umweltschutz und regionale Direktvermarktung groß schreiben. Städte, die ihre besondere Tradition pflegen und ihre eigentümliche Kultur erhalten, schlichtweg die die Ziele der Agenda 21 umzusetzen versuchen. In Italien haben sich 55 Städte diesem Gedanken verpflichtet, in Deutschland sind neben Hersbruck Überlingen amBodensee, Waldkirch bei Freiburg und Schwarzenbruck in Franken so genannte „slow cities". „In diesen Städten wird eine Umweltpolitik gemacht, die regionale Besonderheiten erhält und fördert", heißt es in den Statuten der Bewegung, und weiter: „Die Städte regen Produktion und Verbrauch von natürlich erzeugten und umweltverträglichen Lebensmitteln an; regionaltypische Produkte werden geschützt." Die Hersbrucker Alb ist keine typische Obstbaugegend. Zu felsig ist der Boden. Noch bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts bewirtschafteten vor allem Hirten die Weideflächen auf den Anhöhen, Hutanger genannt. Wildes, ungepflegtes Land, auf dem unter Eichen und Obstbäumen vor allem Rinder weideten. Rainer Wölfel, Agraringenieur und Leiter der Ökostation Wengleinpark, setzt sich seit über zwanzig Jahren für die Hutanger ein. Einige Bauern hat er überzeugt. Sie haben auf den Weideflächen die Rinderzucht wieder aufgenommen.„Beweidung ist nun einmal die billigste Variante, diese einmalige Kulturlandschaft zu erhalten", sagt Wölfel. Und nicht nur das: Durch dieWeidewirtschaft gedeiht eine einmalige Flora und Fauna: Seit auf den Angern außerhalb des Städtchens wieder Rinder grasen, wachsen dort Orchideen, Küchenschelle und Fliegenragwurz; in den Tümpeln und Weihern leben Gelbbauchunke, Kammmolch und Feuersalamander. Ein Schwerpunkt der Ökostation Wengleinpark ist das Thema Direktvermarktung. Agraringenieur Wölfel arbeitet mit Landwirten, Gastronomen, Holzwirten und Obstbauern zusammen, um einen regionalen Absatzmarkt zu schaffen; die Wertschöpfung soll in der Region bleiben. „Ich kann mich doch auf dem globalen Markt besser behaupten, wenn ich qualitative, regionale Produkte habe", sagt Wölfel. Deshalb organisiert er einmal im Jahr den so genannten „Tag der Regionen",

eine Art „Grüne Woche", auf dem Landwirte, Schreiner und Obstbauern
ihre Produkte präsentieren. Die Idee: Hier können die Bürgerinnen und
Bürger die Produkte quasi vom Feld weg probieren. „Beim Tag der
Regionen geht es um regionales und faires Konsumverhalten", sagt
Wölfel. Im vergangenen Jahr zählte er neunzig Aussteller und knapp 10
000 Besucher.
Von Anfang an dabei beim Tag der Regionen war die Initiative „Holz von
der Frankenalb", in der sich Waldbauern, Schreiner, Architekten und
Forstwirte der Region zusammengeschlossen haben. Gezielt vermarkten sie
das Holz aus der Region – als Bauholz, Möbelholz oder Energieholz.
„Seit mehreren Jahren arbeiten wir daran, ein Bewusstsein für den
ökologischen und ökonomischen Wert unseres regionalen Holzes zu
schaffen", sagt Herwig Danzer, einer der Holz-Unternehmer. Danzer
baute, nachdem er ein paar Semestern Germanistik, Politik und
Soziologie studiert hatte zusammen mit dem Schreinermeister Gunther
Münzenberg eine Schreinerei auf. Hier stellen sie Massivholzmöbel her –
zu 95 Prozent aus dem Holz der Region. Küchen aus Rotkernbuchen, Stühle
aus Ahornholz, Regalwände aus Nussbaum. Wer kann sich diese Möbel
leisten? „Das ist eine Prioritätenfrage", meint Danzer. Hinter der
Werkstatthalle, unter freiem Himmel, befindet sich das Holzlager. Hier
lagern ganze Stämme, geschnittene Balken, Ahornholz, Esche und Buche.
Massivholzmöbel zu bauen, braucht Zeit. Bis zu drei Jahre muss das Holz
ablagern und trocknen, bis es die Schreiner weiterverarbeiten können.
Trotz dieser Langsamkeit sind in dem

mittelständischen Betrieb in den letzten Jahren einige Arbeitsplätze
entstanden: Heute beschäftigen Danzer und Münzenberg 14 Mitarbeiter.
Zehn bis 20 Küchen verkaufen die Möbelmacher pro Jahr. Jahresumsatz:
1,2 Millionen Euro. Eine Erfolgsgeschichte, an die auch andere Betriebe
anknüpfen. Beispielsweise die Hersbrucker Gastronomen. „Auch wir
versuchen, den Regionalgedanken zu verwirklichen", sagt der Koch und
Hotelbesitzer Peter Bauer. Wie der Gastwirt Hans-Peter Eberhard, bietet
er auf seiner Speisekarte – neben den gewöhnlichen Standards – stets
ein bis drei Gerichte aus Lebensmitteln aus dem Umland an: Die Nudeln
kommen vom Biobauern, die Fische werden aus den nahe liegenden Weihern
geangelt. Immer mehr Gäste schauen inzwischen darauf, woher das Fleisch
auf dem Teller kommt. „Eine Fleischfabrik passt daher weniger zu uns
als ein Bauer, der nur fünf Schweine zum Schlachten hat", sagt der Koch
Hans-Peter Eberhard. Ganz auf die regionale Küche umstellen, will er
aber nicht: „Im Angebot wären wir dann zu eingeschränkt." Beide Köche
arbeiten zusammen, wenn es um das Thema Gesunde Ernährung geht. Zwei
Jahre lang, immer einmal im Monat, lernen 20 Kinder zwischen neun und
15 Jahren bei ihnen alles über Ernährungsfragen, Getränkekunde,
Umweltbewusstsein. In dem Projekt „Hersbrucker Miniköche" bringen Bauer
und Eberhard dem Nachwuchs bei, was etwa Pastinaken sind, in welcher
Jahreszeit Kartoffeln auf dem Acker geerntet werden, und dass es neben
Maggi und Ketchup Gewürze gibt, die das Essen schmackhaft machen. „Wir
wollen, dass die Kinder saisonal kochen lernen", sagt Peter Bauer. Das
heißt: keine Erdbeeren im Winter, stattdessen Kohl, Schwarzwurzeln,
Knollen-Sellerie, Steckrüben, Wurzelpetersilie. Bei ihren Ernährungs-
und Kochkursen verwenden die Köche gezielt Produkte aus der Region.
Gemüse und Fleisch bekommen sie von den Biobauern und Metzgern im
Umland. Im Herbst haben sie einen Apfelstrudel mit den Äpfeln aus der
Region gebacken. „Slow city ist eine Chance für die Menschen", sagt der
Bürgermeister Wolfgang Plattmeier. Ein Angebot, entgegen dem Trend von
Mobilität, Schnelllebigkeit und industrieller Fertigung, um natürliche
Lebensabläufe wahrzunehmen. Ein Angebot aber auch, das auch in
Hersbruck nicht ausschließlich ist. Am Stadtrand haben sich, wie
anderorts auch, einige große Supermarktketten angesiedelt, im Zentrum
prägen Drogeriemärkte das Stadtbild. „Aber immerhin können die Menschen
hier auch andere Lebensabläufe kennen lernen", sagt Plattmeier.

Im Streuobstsortengarten vor den Toren der Stadt malt sich Ottmar
Fischer derweil die Zukunft aus. „Die Leute denken immer, ich bin so
autobegeistert", sagt der Fahrlehrer, während er die junge Pflanzung
betrachtet. „In Wirklichkeit liebe ich aber die Natur." Aus seinem
Kleinwagen holt der 60-Jährige einen dicken Hefter hervor. Seine Bilder
zeigen Apfelbäume in sattem Grün, pralle Früchte an den Zweigen,
im Schatten der Bäume sitzen Obstbauern und freiwillige Apfelpflüger in
geselliger  Runde. So soll es hier auch einmal aussehen, in einigen
Jahren. Für Fischer ist diese Zukunft schon sehr konkret.

2 Kommentare

  1. Thomas

    Und die Bilder waren von Thomas Geiger, soviel sollte man schon dazu sagen. 😉 – Endlich mal ein Magazin oder Zeitung das nicht extra einen Fotografen aus der Welt hat einfliegen lassen, wenn doch ein guter vor Ort ist, oder? 😉

    Antworten
  2. Nina Schoproni

    Das stimmt! Tut mir wirklich leid, dass ich dich vergessen hab. Der aufmerksame Leser hat deinen Namen aber sicher in der PDF-Datei gefunden!

    Antworten

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