von | Dez 30, 2006

Zeit-Dossier mit Möbelmachererwähnung von Christian Schüle: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

BETRIEBS(ver)FÜHRUNGEN, Bücher, Cittaslow und Slowfood, Presse - über und von uns, Veranstaltungen

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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bin ich auch oft, denn ich habe die Zeit abonniert, seitdem ich siebzehn war, und immer wieder muss ich eine verlorene suchen. Aber es lohnt sich diese lesenswerte Wochenzeitung zu finden, nicht nur in der Ausgabe Nr. 1 vom 28.12.06, aber da besonders.

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Christian Schüle geht das Thema Zeit ebenso ernsthaft wie humorvoll in 8 Etappen an, von denen ihn die 4. und 5. in die  Slow City Hersbruck, nach Unterkrumbach und Vorderhaslach führte (Artikel in ganzer Länge). Natürlich führte die Beschäftigung mit Slow City wieder zur worst-case-Überschrift: „Besuch der langsamsten Stadt Deutschlands,“ aber der Text dahinter ist sehr weise und klug und uns blieb wenigstens die Überschrift „Langsamste Schrreinerei Deutschlands“ erspart.

„Langsame Städte wie das evangelisch-bayerische Hersbruck setzen den
globalkapitalistischen Kreisläufen gezielt regionale Kreisläufe
entgegen. Handelsketten sind unerwünscht, alteingesessene Betriebe
werden bewusst gefördert, historische Flächen aus dem 15. Jahrhundert
beweidet, Streuobstwiesen kultiviert. Die Bauern vermarkten direkt, in
den Gaststätten kommt, auch wenn das Lamm ein paar Cent teurer ist, nur
die »Heimat auf den Teller«. Die Stadt hat vier Erdgasbusse, eine
Erdgastankstelle, und wenn ein Begriff alle Hersbrucker Bemühungen auf
den Punkt bringt, so ist es jener der Nachhaltigkeit.“

Schrieb Schüle und lieferte damit nicht nur ein perfektes Zitat für das Nachhaltigkeitsblog, und ein Portrait mit dem Saibling der Fischzucht Rau, sondern auch eine wohlwollende Beschreibung unserer Slow City und des Bürgermeisters Wolfgang Plattmeier, dessen Presse-Arbeit zu den besten Disziplinen zählt.

„Der Bürgermeister, ein Roter, ist das Triebwerk der lebenswerten Langsamkeit.“

Der ganze Artikel ist eine Abfolge von Zitiernotwendigkeiten, was durchaus ärgerlich ist, weil die Unterstreichungen in dem 11-seitigen ausgedruckten Exemplar aus dem Internet entgegen der nicht unterstrichenen Sätze in der Überzahl sind.

„Wenigstens zu ihrem Geburtstag wollte ich meine Mutter zu Hause
besuchen. War klar, sagt sie, dass du’s nicht schaffst. Ein Jahr kann
auf irrsinnige Weise kurz sein, sage ich. Bitter darauf ihr Schweigen.“

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Wie soll man sowas zusammenfassen? Am besten gar nicht, sondern abgesehen von dem persönlichen Faible für die folgende Passage, einfach auf den ganzen Text verlinken, ich habe ihn schon ein paar Menschen mitgegeben, die über das gerade vergehende Jahr jammerten:“War nicht Radfahren, bin kein einziges Mal in meinem schönen Garten gesessen, war nur einmal im Kino.“

„Aber wer eine McDonald’s-Filiale mit dem Hinweis ablehnt, Fast Food
gehe vielleicht schneller, sei jedoch verlorene Zeit, da Harmonie,
innere Ruhe und seelische Zufriedenheit beim Essen verlustig gingen
(was schließlich einen erheblichen Aufwand an kontemplativem Ausgleich
verlange), der muss geradezu stolz sein auf Bürger wie den
international erfolgreichen Möbelmacher herwig Danzer. Der arbeitet in
der immer hektischer auf Just-in-Time-Produktion sich abrichtenden
Hausbaubranche gezielt mit dem Faktor Entschleunigung.

Für seine Massivholzküchen kauft Danzer ausschließlich Kiefern und
Lärchen von der Forstbetriebsgemeinschaft aus dem heimatlichen Wald
vier Kilometer entfernt. Eingekauft wird nur im Winter, wenn der Frost
das Holz getrocknet hat. Seine Säger brauchen fürs Sägen mindestens
drei Wochen Zeit, seine zinsfressende Lagerhaltung bringt jeden
Steuerberater zur Verzweiflung, weil das Holz so lange Platz belegt,
bis es eben gebraucht wird. Das Ölen, Trocknen und Wiederölen der
Platten mit Naturharz schließlich erfordert viermal so viel Zeit, wie
wenn man es wie üblich spritzte. »Unsere Kunden schätzen den hohen
Aufwand, zahlen mehr und warten länger, fahren dafür aber keine teuren
Autos.« Der Möbelmacher nennt das »Wertverlagerung«. Erst wer Zeit als
solche wahrnimmt, erkennt ihren wahren Wert.“

Abgesehen davon, dass wir Kiefern und Lärchen nur zum Hausbau mit dem Initiativkreis Holz aus der Frankenalb verwenden, niemals für unsere Küchen (Buche, Ahorn, Rüster, Eiche, Esche, Eslbeere), sind uns viele Zusammenhänge wie zum Besipiel die „Wertverlagerung“ selbst erst während der interessanten Gespräche mit Schüle aufgefallen. Andererseits haben wir gottseidank auch ein paar Kunden, die sich trotz ihrer teuren Autos unsere Möbel kaufen. Aber das ändert nichts an der Erkenntnis, dass diese auch selbst mehr Zeit in den Möbelkauf setzen, gleichzeitig aber auch weniger. Das gemeinsame Entwerfen von einzeln angefertigten Möbeln ist anders, als der Gang ins Möbelhaus. Erlebnis, Freude an der Gestaltung und vor allem Lebensqualität nach der Montage sind durch die eigene Beschäftigung mit der Einrichtung auf einem ganz anderen Niveau. Gleichzeitig holt die Kompletteinrichtung mit Teppich, Beleuchtung Sofa, Fußboden, Flachbildschirm und Vorhängen die Entwurfszeit leicht wieder rein. Ein Kunde der Kategorie A mit M-Zeitbewusstsein (alles im Artikel erklärt) sagte im Jahr 2005: „Allein die Tatsache, dass ich an den nächsten Samstagen nicht in andere Häuser wegen Licht, Fernseher und Vorhang muss, ist mir die Sache schon wert – und  dann haben wir auch noch die Möbel aus heimischen Holz genau auf unsere Bedürfnisse abgestimmt.“

„Die Fahrt von Hersbruck zum Ende der vermessbaren Welt“

Schleeberhard1000Mit dem meint er ausnahmsweise mal nicht Unterkrumbach, sondern Vorderhaslach, wo er mit unserem Biobauer Uwe Neukamm über Zeitdimensionen diskutierte.
Das Vermessen Deutschlands hat er in seinem genialen Buch „Deutschlandvermessung“ beschrieben, aus dem er nach momentanen Planungsstand am 17 August 2007 bei uns lesen wird. Auf das Buch werden wir in einem der nächsten Artikel noch hinweisen, bitte unbedingt lesen und zur Lesung kommen, vorher aber noch das geniale Dossier „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.“

Auf dem letzten Foto ist er im Gespräch mit Hans-Peter Eberhard vom Grünen Baum und unserer TouristinfoChefin Petra Hofmann.

„Bei 230 Stundenkilometern im ICE 72 nach Hamburg versank ich in einer
Meditation über den Sinn von Schienen und rief mir das Bonmot des
Zenmeisters Thich Nhat Hanh ins Gedächtnis. »Statt zu sagen: ›Sitz
nicht einfach nur da; tu irgendetwas‹, sollten wir das Gegenteil
fordern: ›Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‹«“

O.k., ich werden den Kamin anschüren und dem Jori-Relax-Sessel frönen, den ich öfter verkaufe als drin sitze. Ich sitz nur da, aber ein bisschen Musikhören ist schon erlaubt, oder?

5 Kommentare

  1. Michael Reiner

    Na na na! Mal nicht so schnell mit der ultimativen Lobhudelei – schließlich habt ihr den Ruf zu verlieren, die langsamste Schreinerei der Welt zu sein. Das darf man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Gut, der Herwig (diesmal mit großen H) ist groß rausgekommen. Und die Saiblinge der Fischzucht Rau auch. Aber genial? Genial sind ganz andere Texte, die sich mit der Zeit und ihrer Vergänglichkeit beschäftigen – und die gerade in Zeiten des Jahreswechsels Konjunktur haben. So hat sich zum Beispiel unser aller hochgeschätzter Kultusstaatssekretär Karl Freller aus Schwabach mit dem Thema befasst – und zwar mit einer Tiefe, da können sich solche dahergelaufenen (wäre er doch gelaufen, aber er hat ja den ICE nehmen müssen!) Zeit-Vermesser aus dem Norden Deutschlands eine dicke Scheibe davon abschneiden. Aber schleunigst! Der Freller Charly also schreibt zum Jahreswechsel 2006/07:
    „Der Zug der Zeit hat keine Haltestellen“ – wenn ein Jahr nahtlos ins nächste wechselt, dann wird diese Erkenntnis des österreichischen Schriftstellers Carl Merz existenziell spürbar. Das Jahr, soeben begonnen – es ist schon wieder Vergangenheit. 2006 – nur noch Stunden dauert es bis der Zug der Zeit am Ortsschild „Hier beginnt 2007″ vorbeirauscht. Er hat keine Sekunde lang angehalten. Wir alle sitzen in diesem Zug der Zeit. Manche ziehen den Vorhang im Abteil zu. Wollen nicht wissen, was draußen abgeht, leben von der Erinnerung an Vergangenes. Andere verdrängen die sichtbare Wirklichkeit. Doch etliche nehmen hellwach wahr, was der Blick aus dem Zugfenster bietet.“

    Das hat Niveau! Da weiß man, wo es lang geht! Und dass es immer weiter aufwärts geht mit Bayern und der CSU! Wer übrigens eine Autogrammkarte will, kann sie sich auf der Homepage http://www.freller.de, Rubrik Service bestellen. Vielleicht braucht der Herr Freller demnächst ja auch einen Jori-Relax-Sessel, damit er daheim in seinem gemüdtlichen Dachboden in Schwabach über die nächsten Stationen des Zugs der Zeit Gedanken machen kann – 2008 kommt bestimmt!

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  2. herwig Danzer

    Das ist doch mal ein Vorschlag wie ihn Geschäftsleute lieben. Jawoll, ich werde Ihm Deinen Kommentar zusammen mit dem Prospekt aller Jori Relaxmodelle schicken. Vielleicht bekomme ich dann ja eine Autogrammkarte mit Bestellung zurück, die wären im Moment allerdings von Gabriele Pauli beliebter, denn sie ist grade dabei mit der Suchworthäufigkeit im Nachhaltigkeitsblog sogar unseren Playboyfotografen Peter Jirmann zu überholen.

    Zur Lesung am 17. August möchte ich dann aber doch lieber Herrn Schüle einladen, selbst, wenn er mit dem Zug kommt, hoffe dass Du auch kommst, könnte Deine Hilfe gut gebrauchen? Bist zwar mit 43 (?) ein wenig zu alt aber es geht ja um mehr als große Hs und Saiblinge, auch wenn ich ein paar derselben heute abend auf dem Tapan Yaki veredeln werde. Es geht um die Zukunft der Slow City, Frankens, Bayerns und ganz Deutschlands. Jawoll.

    Antworten
  3. karin und lutz

    Liebe Ute, lieber Herwig,

    gefreut haben wir uns, als wir die Möbelmacher in der Zeit fanden. Wir wussten allerdings gar nicht, dass Ihr einen so maßlos engagierten Bürgermeister habt in Hersbruck. Das habt Ihr soooo aber nicht erzählt.

    Nun macht ihn dingfest und verpflichtet ihn auf seine Aussagen.

    Herzliche Grüße aus Hannover
    Karin und Lutz

    Antworten
  4. Wolfram Steckbeck

    Lieber Herr Danzer,

    herzlichen Glückwunsch zum Artikel über den „international erfolgreichen Möbelmacher“! Auch wir gehören gerne zu Ihren Kunden, die sich lieber einen wunderschönen Tisch und saubequeme Jori-Stühle kaufen als ein teures Auto.

    Herzliche Grüße

    Wolfram Steckbeck

    Antworten
  5. Nachhaltig

    brandeins in Slow City und Unterkrumbach oder „Langsam Kiffen“

    Eigentlich müsste ich über die vergangene Gewerbeschau schreiben, aber dazu müsste ich noch 150 Fotos aussortieren, was ich heute Abend nicht mehr schaffe, bin auch einfach geschlaucht, obwohl die eigentliche Arbeit des Küchen und Möbelschleppens Gunth…

    Antworten

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